Von Ausgrenzung zu Teilhabe

Büchersonntag, Folge 2: Die Philosophin Michaela Ott fordert in „Welches Außen des Denkens?“ die Abschaffung des Begriffs des „Anderen“

Wer oder was ist der Andere? Warum macht er/sie/es mir Angst? Warum bleibt der Andere und fremd? Wieso ist Xenophobie offenbar so tief im menschlichen Dasein verortet? Fragen, die auf Vorbehalte hinweisen. Vorbehalte, die nicht nur in der alltäglichen Lebensweltpraxis eine Rolle spielen, sondern auch in theoretischen Denkmodellen. Wer einen philosophischen Einblick in das Denken über die Aneignung des Fremden haben möchte, dem sei Michaela Otts Buch Welches Außen des Denkens empfohlen.

Im Wesentlichen geht es in ihrem Buch um eine französische Denktradition des 20. Jahrhunderts, die im Begriff der postkolonialen Kritik kulminiert. Gemeint sind damit Phänomene wie das politische und wissenschaftliche Übersehen bestimmter Bevölkerungsgruppen, blinde Flecken der Methodik und der Gegenstandswahrnehmung; es geht um Nichtwahrgenommenes, ungehörte Stimmen, überlagerte Kulturen, die keine Identität mehr haben, aber auch um die Nichtbeachtung kultureller Spezifik und natürlich um das Phänomen der Entkolonisierung. Die Bigotterie eines ganzes Jahrhunderts – entlarvt im Begriff des Außen.

Ott nennt das Fremde dabei nicht Fremdes, sondern das „Außen des Denkens“. Sie kann es nicht Fremdes nennen, weil darin bereits eine Einstellung mitschwingt, die sie gerade denkerisch überwinden will. Ihr Anliegen ist es, dass das Andere nicht fremd bleiben soll. Weil in seiner sächlichen und männlichen und weiblichen Form die Voreinstellung nicht auf abschließende Weise mitschwingt, kann man das Phänomenale daran offenhalten, so wie die französischen Philosophen das versuchten. Dass auch der Begriff des „Anderen“ nicht konsequent genug gedacht wird, klingt im Buchtitel an. Ott lotet aus, was übersehen wurde, was ausgeblendet wurde, was nicht mitbedacht wurde und letztlich außerhalb der Denkmöglichkeit des 20. Jahrhunderts blieb.

Das Außen übersehen

Die vier Hauptkapitel des Buches kreisen um vier politische Großereignisse. Diese beziehen sich auf je eine historische Begebenheit mit Strahlwirkung, die jedoch oft im geschichtspolitischen Treiben um die Narrative der „großen Männer“ vergessen werden.

Da ist zum einen das Jahr 1936. Der französische Sarkasmus, Afrikaner zur Errettung der europäischen Zivilisation einzusetzen, reicht bis zum deutsch-französischen Krieg zurück. Aber seit 1936 wurden Menschen aus Afrika auch in Friedenszeiten für die Sicherung der französischen Grenze nach Spanien hin eingesetzt. Diese sog. Tirailleurs Sénegalais, so schreibt die Autorin in ihrem 1. Kapitel, sollten die vielen Bürgerkriegsflüchtlinge und fliehenden Soldaten aus Spanien aufgreifen und in Lager bringen. Später wurden diese senegalesischen Menschen als französische Kolonialdivisionen im 2. Weltkrieg als Kanonenfutter gegen die Deutschen missbraucht, dort als Kriegsgefangene wie Tiere behandelt oder umgebracht. Hunderttausende dieser Menschen starben für Frankreich.

Das 2. Kapitel befasst sich mit dem Jahr 1961. Der algerischen Freiheitsbewegung FLN gelingt es, in Muhlhouse eine Solidaritätskundgebung für die Algerier aus der Pariser Region zu organisieren, die Opfer des vom Polizeipräfekten Maurice Papon anlässlich ihrer friedlichen Demonstration vom 17. Oktober 1961 organisierten Pogroms geworden sind. Bei dieser Demonstration starben 200 Algerier und Angehörige und über 2.000 wurden verletzt. Sie wurden von dem Land fallengelassen, für das sie gekämpft hatten. Anlass: 120.000 Algerier und Soldaten der französischen Armee wollten nach Frankreich zurück. Die Hälfte von ihnen schaffte es nach Frankreich, wurde aber in Südfrankreich in den gleichen Lagern, wo schon die spanischen Bürgerkriegskämpfer ausharren mussten, zusammengepfercht und kaltgestellt. Die andere Hälfte wurden in Algerien zum Tode verurteilt.

Im 3. Kapitel geht es nicht um Frankreich, sondern um Südafrika in den 80er-Jahren. Schon seit den 60er-Jahren war der Pan-afrikanische Kongress PAC mit der Arbeit des Afrikanischen National-Congresses ANC nicht mehr zufrieden. Ging es vor den 60er-Jahren noch um die Befreiung vom Kolonialismus, so ging es nun vor allem um ein eigenes Selbstverständnis, das sich generell von europäischer Fremdbestimmung und westlichen Zuschreibungen freimachen wollte. Bei einer Demonstration gegen die neuen Passgesetze, an der 10.000 Menschen teilnahmen, kamen 68 Menschen um und über 200 wurden verletzt.

Das 4. Kapitel handelt schließlich von der aktuellen Flüchtlingspolitik in Europa: Im Februar 2017 trafen sich die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer auf ihrem Gipfel in Malta. Die EU wollte dort mit Libyen eine Vereinbarung treffen, um die Flüchtlingswelle nach Europa zu stoppen. Die libysche Küstenwache soll das Mittelmeer abriegeln, Flüchtende abfangen und in Aufnahmelager in Libyen bringen. Doch mit wem kann die EU überhaupt verhandeln in einem Land mit 1.700 militanten Gruppen und einem andauernden Bürgerkrieg entlang von Clan-, Stammes- und Glaubensgrenzen? Um das Geschäft der Schleuser zu beenden, stellte Italien 200 Millionen Euro und die EU-Kommission in einer ersten Phase weitere 200 Millionen Euro bereit. Commander Al Bija, mit dem verhandelt wird, bringt die Flüchtenden in überfüllte Camps. Damit jedoch verbessert er nur die Verhandlungsposition der Milizen gegenüber den europäischen Staaten.

Das Außen und die (französische) Philosophie des 20. Jahrhunderts

Diese vier Ereignisse sind nach Ott für die französische Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts Anlässe, „das Andere“ und „die Anderen“ immer wieder neu zu bestimmen und sich damit selbst je neu zu verorten. Sie untersucht zuerst die Bezugnahme auf den 2. Weltkrieg von Senghors und Sartre und Fenon, dann das Interesse von Lacan und Merleau-Ponty für den Anderen in der Sprache und im Blick, das Interesse von Levinas für Alterität, für abweichende Symbolisierungsweisen und Heterotopien bei Foucault, für Eurozentrismuskritik bei Derrida, für disziplintransversale Reflexionen und ästhetische Grenzgängerei bei Deleuze und Guattari, für die Preisgabe individuumszentrierter Subjektivierungsmodelle zugunsten minoritärer Gruppen und die Suche nach dem gesellschaftlichen Unbewussten seit den 60er-Jahren, dem Zeitpunkt der Entkolonisierung. Alle genannten Autoren thematisieren das Andere. Aber allen entgeht etwas Entscheidendes dabei.

Die Autorin möchte nun gerade diese Arten des philosophischen Übersehens thematisieren. Es geht ihr deswegen ausdrücklich um einen Wiedereintrag, eine „theoretische Reparatur“ (S. 48). Sie fragt danach, wie es zu einer derartigen Schieflage zwischen theoretischem Anspruch und Realität kommen konnte. Wieso konnten diese emphatischen Theoretiker trotz der Betonung unangemessener sprachlich-logischer Grenzziehungen und des Aufrufs zu neuen Begriffsbildungen nur bedingt kritische Erkenntnisraster für das Andere entwickeln? Wieso waren sie trotz des erweiterten Problembewusstseins durch die Geschichte des französischen Kolonialismus so „farbenblind“ und haben mit ihrer Nichtbeachtung der Realität Menschen exkludiert?

Mit neueren philosophischen Autoren wie Gayatri Chakravorty Spivak, Rey Chow, Robert Young und Achille Mbembe kritisiert sie die Selbstinsulierung der französischen Theoretiker trotz avancierter Begriffsbildung und ihrem Nichtanschluss an den postkolonialen Außendiskurs, der „white mythologies“. Sie kritisiert: Die Betroffenen kommen nicht zur Sprache. Damit moniert sie das Übersehen imperialistischer und neokolonialer Weltaufteilungen und nicht zuletzt das Selbstverständnis des universitären Diskurses des Westens, das sich auch im Denken manifestiert. Von der kolonialen Sichtbarkeit ging man zur postkolonialen Unsichtbarkeit über, stellt sie trocken fest. Ott verweist auf die Zwischenstellung der Personen des globalen Südens zwischen verschiedenen kulturellen Codes, Geschichts- und Sprecherverständnissen als Orientierungsverlust, den der Diskurs des Tiers-Mondisme in den 1980er-Jahren zum Thema hatte. Damit kritisiert sie zugleich, wenn auch nicht ausdrücklich, das Reden „über“ den Anderen, statt ihn oder sie in einen gemeinsamen Austausch mit einzubeziehen.

Außensein versus Teilhaben

Es verwundert also nicht, dass Ott am Ende ihres Buches die Begriffe des Fremden und der Anderen, der Alterität und eines Außen abschaffen will. Denn diese Begriffe speisen sich aus der existenziellen Erfahrung der deutschen Besatzung, des Widerstandskampfes im Maquis, des Holocausts, der Entkolonisierungs- und Befreiungskämpfe sowie der Flüchtlingsbewegungen der Gegenwart. Stattdessen plädiert sie für eine erweiternde Begrifflichkeit der Teilhabe. Mit Edward Said, Fabien Eboussi Boulaga, Souleymane Bashir Diagne, Leonard Praeg will sie den Überhörten und Nichtgesehenen eine Stimme verleihen und ihr Leben in verschiedenen Diskurswelten ins Licht rücken.

Das Dividuum – der Teilhabende – stellt dabei das Gegenteil von Individuum dar, das als Unteilbares, Atomares gilt. Das Dividuum definiert Ott als etwas, das Partizipationsmöglichkeiten hat, gesehen wird und mitbestimmen kann. Damit will sie aus den Fallstricken des Binären und der unfruchtbaren Entgegensetzung von Selbst und Anderem herausführen. Die Begrifflichkeit der Dividuation soll es nämlich ermöglichen zu fragen, welche kulturellen, ökonomischen und symbolischen Teilhaben in einer Gesellschaft ermöglicht oder verhindert werden, wer in welche Teilhabeverhältnisse inkludiert oder exkludiert wird und nach welche ungedachten Inklusionsunterlassungen uns selbst unterlaufen und später erst noch geforscht werden muss.

Michaela Ott: Welches Außen des Denkens? Französische Theorien in (post)kolonialer Kritik

Turia + Kant, 2019

218 Seiten

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