Debunking im Universitätsmilieu

Büchersonntag, Folge 15: In ihrem Debütroman „Identitti“ beschreibt Mithu Sanyal die Schwierigkeiten der jungen POC-Generation, eine eigene Identität herauszubilden und ihren Platz in der Gesellschaft zu finden

Eine Starprofessorin für Intercultural Studies/Postkolonial Studies wird der Täuschung bezichtigt, weil sie unterschlagen hat, dass sie selbst einmal weiß war. Damit stürzt sie den Identitätskurs an der Düsseldorfer Uni und einige ihrer auf Identitätssuche befindlichen Studenten, allen voran die Protagonistin Nivedita, in ein folgenschweres Chaos. Die Studenten sind empört über den Verrat der Professorin. Die Professorin zeigt sich verständnislos gegenüber den Anschuldigungen. So beginnt Methu Sanyals theoriebeladener Debütroman Identitti.

Im Laufe der Geschichte offenbart sich allmählich, dass das Gefühlschaos allerdings nicht allein vom Unterschlagen der „wirklichen Herkunft“ ihrer Professorin herrührt, sondern vor allem von der Suche junger Erwachsener nach eigener Identität in Zeiten des Fluiden, Aposynthetischen oder sogar Transitorischen. Im Buch zeigt sich diese Suche als Wunsch nach Anerkennung, Verstandenwerden, Ehrlichkeit, Angezogensein. So ist die Beziehung zu der Professorin, von der sich die Protagonistin verraten fühlt, nicht nur rein intellektuell. Vielmehr schwingt in ihr eine erotische Ebene mit. Wunderbar beschrieben wird im Roman daher, wie die junge Frau Nivedita ihr Studium nicht nur als etwas Theoretisches betreibt, das man auf Distanz halten kann, sondern als etwas, das einem subkutan auf den Leib rückt, das mit einem selbst zu tun hat und für das man mit seiner ganzen Persönlichkeit einstehen sollte.

Identität

Nivedita fühlt sich nirgends richtig zu Hause. Weder ist sie in Deutschland, wo ihre Mutter herkommt, heimisch, noch kennt sie Indien, woher ihr Vater stammt. Als People of Coulor, POC, befasst sie sich auf ihrem Blog mit Fragen von Feminismus und Identitätspolitik. Ihr Alias-Name ist dabei titelgebend „Identitti“. Die Studentin leidet unter ihrem minderen Selbstwertgefühl und gerät immer an Freunde und Freundinnen, die sie mehr oder weniger ausnutzen und manipulieren. Das reflektiert die Studentin während des Romans immer mal wieder mit ihrer imaginierten indischen Göttin Kali. Kali als freches Alter Ego und Göttin der Zeit symbolisiert dabei selbst auch das allmähliche Erwachsenwerden von Nivedita.

Nivedita verfolgt seit ihrer Kindheit das Grundgefühl, keinen Platz in der Gesellschaft zu haben, in der sie lebt, nicht deutsch genug zu sein, aber auch nicht indisch genug, um sich irgendwo zu Hause zu fühlen. Schon als 8-Jährige wird sie bei einem Familienbesuch in Birmingham als „Coconut“ ausgelacht. Schließlich beweist sie aber den anderen Kindern mit einem Schnitt in die Haut, dass sie innen genauso rot ist wie alle anderen Kinder.

Die Studentin Nivedita ist fasziniert von der charismatischen Professorin. Unkritisch saugt sie alles von ihr auf, fühlt sich gesehen, gehört. Und auch ihr Selbstwertgefühl wächst. Deswegen ist sie umso mehr verstört vom späteren Verrat der professoralen Vertrauensperson. Sie fragt sich, warum die Lichtgestalt Saraswati alle hintergangen hat, und stellt sie zur Rede. Schließlich enttarnt sie Saraswati als Sara Vera Thielmann, die aus einer deutschen Zahnarztfamilie in Karlsruhe stammt und sich einer allmählichen Hautumwandlung unterzog. Der Verrat wirft Nivedita erneut in ein Gefühlschaos.

Die falsche Professorin

Das Studium kann der Leser nun als Therapie verstehen, sie von ihrem Identitätsleid zu erlösen. Da kommt die charismatische Professorin gerade recht. Für Nivedita wird die berühmte und gefeierte Professorin vorgeblich indischer Herkunft zu einer Mischung aus Ersatzmutter, weiblicher Erlöserfigur und erotischer Projektion. Sie nennt sich „Saraswati“ nach der hinduistischen Göttin für Weisheit. Aufgrund eines theoretischen Bestsellers wird sie Talkshows-Star und Gast zahlreicher Podiumsdiskussionen.

Bei Sanyal ist die Professorin nicht nur unglaublich eloquent. Mit unkonventionellen Methoden – etwa dem Ausschluss von Weißen aus ihrem Proseminar – stellt die Akademikerin genau das her, was sie eigentlich wissenschaftlich bekämpft: Sie grenzt aus, schafft eine elitäre Gruppe, stellt Lieblinge heraus und bindet Menschen persönlich an sich – alles jedoch aus der politisch korrekten Perspektive der POC. Dabei hat sie jedoch einen Widersacher: ihren eigenen Bruder, der von den Eltern einst aus Indien adoptiert wurde. Er deckt ihren „Schwindel“ auf und entlarvt Saraswatis Transformation als eine weitere Form weißer Infiltration und modernen Kolonialismus‘.

Nur ein Marketing-Trick?

Ist es ein Fall von kultureller Aneignung, der hier vorliegt? Und wäre das nicht die Erbsünde der postkolonialen Debatte? Ist weiße Vorherrschaft ein unbezwingbares Übel? Oder wie soll man mit der Causa Saraswati umgehen? Mithu Sanyal und mit ihr die Gegenprotagonistin Saraswati bürstet gängige Theoreme der Postcolonial Studies gegen den Strich. Statt einer Antwort wird die entscheidende Frage aufgeworfen: Wenn Geschlechter fluide sein können, warum dann nicht auch Herkünfte? Wenn Geschlecht und Rasse nur Konstrukte sind, schließt das nicht auch Weiße ein, die dann zu Opfern von Erwartungen und Zurichtungen gelesen werden müssen? Und: Ist nicht auch in die postkoloniale Debatte – zumindest theoretisch – Ausgrenzung, Vorverurteilung und Opferkonkurrenz eingeschlossen? Und sind theoretische Konstrukte nicht immer ein- und ausschließende Abstraktionen?

Im Roman bleibt offen, welche letzten Absichten hinter Saraswatis Handeln stecken und ob ihre Theorie nicht selbst als Prozess gelesen werden muss, als etwas Fluides, als sich im Wandel befindender Vorgang. Denn trotz des Konflikts zwischen dem hehren identitätspolitischen Anspruch des Faches und seinen erwartungsvollen Studierenden strebt die ehrgeizige Starprofessorin nach weiteren Meriten und lässt sich für den Aufbau eines weiterführenden Studienganges an eine andere Stadt berufen. Damit bleibt Saraswati dem Leser eine letzte Antwort schuldig, ob sie letztlich aus rein narzisstischen oder aber metaethischen Motiven heraus agiert.

Mithu Sanyal

Die Autorin, Journalistin und Kulturwissenschaftlerin arbeitet u.a. für den WDR, die taz und den Guardian. Mit ihren Sachbüchern “Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts” und “Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens” große Beachtung gefunden. Mit ihrem Debütroman “Identitti” hat Mithu Sanyal einen Roman für junge Menschen geschrieben, die auf der Identitätssuche sind zwischen Rasse, Geschlecht, Zugehörigkeit, Grenzen der Identität und ihre Auflösung.

Sanyal zeigt schon bei der Auswahl der Kapitelüberschriften eine profunde Kenntnis der postkolonialen Literatur: Frantz Fanon, Zadie Smith, Bernadine Evaristo Ngugi wa Thiongo, Ibram X. Kendi oder Mark Terkessidis mit seinem jüngsten Buch über die blinden Flecke in der deutschen Debatte über Rassismus und Kolonialismus. Auch wenn zuweilen Sanyals Einfließenlassen der theoretischen Debatten den geneigten Leser überfordert, eher nervt und wenig literarisch ist, so ist es doch ein Zeugnis dafür, dass der postkoloniale Geschlechter- und Rassismus-Diskurs ein gutes Mittel zur Selbstermächtigung sein kann.

Frisch, echt, aber etwas zu viel

Mithu Sanyal musste selbst schon Debatten aushalten und Shitstürme im Netz überstehen. Für den neuen Roman hat die Autorin Twitter-Freunde, Sparringspartner und Kritiker gebeten, den Fall Saraswati wie ein reales Ereignis zu behandeln und in Form von kommentierenden Tweets zu begleiten. Das wirkt erfrischend und echt wie das Buch selbst, das zwischen realen Diskursen und fiktiver Geschichte ebenso changiert wie zwischen Geschlechter- und Rassenkonstrukten.

Zuweilen schrill ist im Buch dabei nicht nur die metaphernreiche offenherzige Sprache Sanyals, sondern auch, wie unverkrampft die junge Generation mit den Themen Sex, Autoerotik und Auflösung von kleinbürgerlichen Beziehungskonstellationen umgeht. Oft bewegt sich der Text auf der Schwelle des Unentschiedenen. Dem wird auch die Sprache gerecht. Denn trotz theoriegeschwängerter Inhalte gelingt es Sanyal, die Wortfäden locker zu stricken und alles mit einem Augenzwinkern zu erzählen. Den Hinweis auf eine nicht zu ernst zu nehmende Lektüre des Romans gibt anfangs schon der etwas albern klingende Titel des Romans: Identitti.

Ob es allerdings unbedingt noch der frechen Göttin Kali bedurft hätte, mit der die mixed-race-Protagonistin Nivedita innere Gespräche führt, bleibt der Leserschaft überlassen. Weder Nivedita, die sich ja weder in der indischen noch der deutschen Kultur zu Hause fühlt, noch für die Handlung des Romans oder die Leser ist diese quasireligiöse Geistergestalt zielführend. Sie bleibt somit ein literarisches Mittel ohne Inhaltsbindung.

Mithu Sanyal: Identitti

Hanser Verlag

432 Seiten

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